Experteninterview

Wie wird das Pflegegradmanagement professionell organisiert, um der Pflegeeinrichtung ausreichend finanzielle Mittel zu sichern?

Unsere Dozentin Astrid Lichnter ist Expertin für das Thema Pflegegradmanagement. Sie berät und unterstützt Pflegeunternehmen bei der Optimierung ihres Pflegegradmanagements.

In dem Experteninterview klären wir wichtige Fragen zum Thema Pflegegradmanagement in der stationären und ambulanten Altenpflege.

Es ist immer wieder zu lesen, dass 30 % der Bewohner in den Pflegeheimen nicht richtig eingestuft sind. Stimmt das mit Ihren Erfahrungen überein? 

Ja, das stimmt auf jeden Fall. Auch ein Kollege, der ebenfalls Pflegeeinrichtungen beraten hat, berichtet von vielen falschen Einstufungen. In manchen Altenpflegeheimen waren sogar bis zu 45 % Prozent der Bewohner falsch eingegradet. Dann verlieren die Pflegeheime richtig Geld. Ein Pflegeheim mit so vielen falsch eingegradeten Bewohnern ist natürlich nicht mehr wirtschaftlich. Es fehlt dann Geld an allen Ecken und Enden. 

Woran liegt es, dass Pflegeheime hier so viel Budget durch ein falsches Pflegegradmanagement verschenken?

Einrichtungen wissen durchaus um die Wichtigkeit der Pflegegrade und der adäquaten Eingradung.  Aber das Pflegegradmanagement ist oft nicht systematisch genug organisiert. Beim Pflegegradmanagement wird in der Praxis immer noch vieles aus dem Bauch heraus gemacht. Das ist dann aber sehr fehleranfällig. Ein typisches Problem ist auch, dass die Verantwortlichkeit in den Pflegeheimen auf zu viele Köpfe verteilt ist. Alle Pflegefachkräfte sind oft gemeinsam verantwortlich. Damit kommt es zu einer Verantwortungsdiffusion. Dies hat einen typischen Effekt: immer wenn die Verantwortung auf viele Köpfe verteilt ist, besteht die Gefahr, dass sich letztendlich keiner wirklich verantwortlich fühlt. 

Es gibt auch immer noch Altenpflegeheime, bei denen die Pflegekräfte zum Thema „Richtige Einstufung der Pflegegrade“ noch gar nicht geschult sind. In anderen Pflegeeinrichtungen haben die Pflegefachkräfte zwar eine Schulung erhalten, doch dann geht die Umsetzung in der Alltagshektik schlichtweg unter. Wenn die Pflegefachkräfte sehr gestresst oder unter Zeitdruck sind, haben sie oft einfach keinen Kopf mehr, um auch noch auf die richtige Einstufung zu achten. Nach meiner Erfahrung ist es so: immer, wenn der Begleitungsprozess, z.B. durch Corona oder andere Störungen, die Stress verursachen, unterbrochen ist, steigt die Anzahl der zu spät höher gegradeten Bewohner. Wenn man nicht kontinuierlich und systematisch dabeibleibt, werden die Bewohner zu spät höher gegradet. Dann entsteht ein Teufelskreis: die zu niedrige Einstufung führt dazu, dass der Personalschlüssel zu niedrig bemessen ist und den Pflegeheimen das Geld für mehr Personal fehlt. Dann bleibt natürlich noch weniger Zeit für das Pflegegradmanagement.  

Soweit muss es aber gar nicht kommen. Wenn allen Beteiligten klar ist, dass Pflegegrade direkte Auswirkungen auf die Planstellen haben, dann muss dieser risikobehaftete Prozess gut gesteuert und gelenkt werden. Das wird jedoch in vielen Pflegeheimen immer noch mehr oder weniger dem Zufall überlassen.  

 

Welche typischen Fehler werden beim Pflegegradmanagement gemacht?

Ein typischer Fehler ist, dass die pflegefachliche Konkretisierung im Begutachtungsinstrument nicht genutzt wird. Oftmals werden nur die einzelnen Kriterien angeklickt oder angekreuzt, ohne die Definition für die Bewertung zu nutzen.  

Ein weiterer typischer Fehler ist, dass zwar ein höherer Bedarf erkannt wird, aber man wartet noch ab. Der Bedarf wird gesehen, aber es wird nicht gehandelt. Die Ursachen sind häufig Unsicherheit und/ oder Unkenntnis des Begutachtungsinstrumentes. Oft wird der Antrag auf Höherstufung dann auch einfach vergessen oder die Pflegekräfte nehmen sich nicht die Zeit dafür. 

Was braucht es, damit das Pflegegradmanagement gut funktioniert?

Ganz wichtig ist, dass die Pflegedienstleitung die Bedeutung des Themas Pflegegradmanagement kennt und es gut organisiert. Deshalb lehren wir auch bereits seit 2015 das Thema Pflegegradmanagement in unseren Pflegedienstleitungs-Weiterbildungen. Die PDL muss vor allem für klare Verantwortlichkeiten sorgen. Dies gelingt am besten durch einen Pflegegradbeauftragten, der das Pflegradmanagement verantwortlich steuert. Eine weitere wichtige Stellschraube ist natürlich dann die Schulung der Mitarbeitenden. Sie müssen die Bedeutung des Pflegegradmanagements erst wirklich verstehen, damit sie engagiert dabei mitwirken.  

Was sind die Aufgaben von Pflegefachkräften, die für das Pflegegradmanagement verantwortlich sind?

Die wichtigsten Aufgaben der Pflegradbeauftragten sind, die Mitarbeitenden für das Pflegeradmanagement zu sensibilisieren, es kontinuierlich zu überwachen und, je nachdem wie man es organisiert, in der Einrichtung das weitere Prozedere auf den Weg zu bringen. Das muss einrichtungsindividuell entschieden werden. Je nach Größe der Einrichtung kann es z.B. auf jedem Wohnbereich einen Pflegegradbeauftragten geben. 

Was muss eine Pflegefachkraft, die das Pflegegradmanagement verantwortlich steuert, wissen und können? Welche Kompetenzen benötigt sie?

Wer das Pflegegradmanagement verantwortlich leitet, benötigt hohes pflegerisches Fachwissen und Fachkompetenz, gute Kommunikationsfähigkeit sowie Methodenkompetenz in der Planung und Organisation. Es geht natürlich zuallererst um die richtige Feststellung des Pflegebedarfs. Auch das gute Argumentieren im Austausch mit dem Gutachter ist wichtig. Pflegegradbeauftragte müssen ein Fachgespräch mit dem Gutachter auf Augenhöhe führen können. Das braucht schon auch ein gewisses Selbstbewusstsein. Pflegegradbeauftragte müssen natürlich auch die Begutachtungsinstrumente sehr gut kennen. Außerdem sollten sie fähig sein, die Pflegedokumentation mit dem Begutachtungsinstrument, mit der MDK-Prüfung und mit dem zukünftigen Personalbemessungssystem zu vernetzen. All diese Kompetenzen vermitteln wir natürlich auch in unserem Kurs „Pflegegradbeauftragte*r“. Die Basis dafür ist die pflegerische Fachkompetenz. Ohne die pflegerische Fachkompetenz ist kein gutes Pflegegradmanagement möglich. Deshalb richtet sich unsere Fortbildung „Pflegebeauftragte*r“ grundsätzlich an examinierte Pflegefachkräfte. Häufig werden in den Altenpflegeheimen auch die Qualitätsmanagementbeauftragten (QMBs) oder Wohnbereichsleitungen für die verantwortliche Steuerung des Pflegegradmanagements eingesetzt. 

Wo liegen Unterschiede des Pflegegradmanagements in der ambulanten und der stationären Altenpflege?

Im stationären Bereich haben wir eine direkte Auswirkung des Pflegegradmanagements auf alle Planstellen und auf die Umsatzerlöse. Im ambulanten Bereich geht es im Sinne des Beratungsauftrages der ambulanten Pflegeeinrichtungen darum, die Versicherten und Angehörigen im Prozess zu begleiten und zu unterstützen sowie die Angehörigen zu dieser Thematik über die Pflegkurse nach § 45 SGB XI zu schulen. 

Ein wichtiger positiver Effekt des Pflegegradmanagements in einem ambulanten Pflegedienst ist, dass je mehr Geld die Versicherten zur Verfügung haben, umso mehr Leistung können sie einkaufen. Damit leistet der ambulante Pflegedienst mit einem professionellen Pflegegradmanagement auch einen wichtigen Beitrag zu adäquaten Versorgung in der häuslichen Pflege. Deshalb eignet sich unser Pflegegrad-Lehrgang auch für die Pflegedienstleitungen von ambulanten Diensten.  

Das Interview führte Petra Weber im März 2022.