Die Corona-Pandemie und Menschen mit Demenz – was hilft Erkrankten im Umgang mit der Pandemie?

Welche Auswirkungen haben die Corona-Maßnahmen auf Menschen mit Demenz?
Wie kann man demenziell erkrankten Menschen die Corona-Maßnahmen erklären?
Was ist bei der Betreuung von Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen während der Covid-Pandemie besonders zu beachten?
Diese und andere Fragen rund um das Thema Corona und Demenz beleuchtet unser Demenz-Experte Dr. Jörg Hinner im dem Experten-Interview.


Petra Weber: Die Corona-Pandemie bringt viele Regeln und Einschränkungen mit sich. Für Menschen mit Demenz ist die Situation besonders schwierig. Sie verstehen nicht, warum alle jetzt Masken tragen. Informationen zu Corona sind für sie nur schwer begreifbar und sie vergessen sie auch gleich wieder. Wie wirkt sich die Corona-Pandemie ganz konkret auf Menschen mit Demenz aus?

Jörg Hinner: Ja, Menschen mit Demenz sind von Corona ganz besonders betroffen. Durch die für sie unverständlichen Änderungen entstehen Ängste, Unruhe und Sorgen. Diese können sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen äußern. Dies sind z.B. Agitiertheit, Aggressivität oder auch gesteigerter Bewegungsdrang. Erschwert wird die Situation zusätzlich, wenn z.B. in Pflegeheimen die Besuche eingeschränkt werden müssen und Bezugspersonen fehlen.

Petra Weber: Wie können Pflegekräfte und Angehörige die Menschen mit Demenz gut unterstützen?

Jörg Hinner: Was hilft, ist immer, Menschen mit Demenz so viel wie möglich Normalität, Sicherheit und Ruhe zu vermitteln. Dies gelingt am besten, wenn die Pflegekräfte oder die pflegenden Angehörigen selbst Ruhe und Sicherheit ausstrahlen. Dann vermitteln sie schon durch ihre Körpersprache, alles ist gut; die Situation ist jetzt anders, aber dennoch sicher. Das fällt vielleicht nicht immer ganz leicht, ist aber am aller wichtigsten: Sich selbst beruhigen, zentrieren, im Jetzt sein, ruhig und gelassen reden. Hektik und Aufgeregtheit versetzen die Menschen mit Demenz in Unruhe.

Petra Weber: Wie können Pflegekräfte oder Angehörige den Menschen mit Demenz die Pandemie und die Corona-Maßnahmen möglichst gut erklären?

Jörg Hinner: Also möglichst gut würde in diesem Fall bedeuten: möglichst einfach. Naja, das ist natürlich auch vom Stadium der Erkrankung abhängig. Aber wenn wir jetzt von einem Menschen ausgehen, der noch sprechen kann, der aber schon fortgeschritten krank ist, dann ist der Vergleich mit einer schweren Grippe hilfreich. Die schwere Grippe ist im Langzeitgedächtnis der Menschen mit Demenz verankert. Damit können sie etwas anfangen. Man könnte also z.B. zu einem Menschen mit Demenz sagen: „Diese schwere Grippe, die jetzt umgeht, dieses Corona-Virus, ist sehr ansteckend. Deswegen müssen wir vorsichtig sein.“ Man sollte also einfach erklären, mit ruhiger Stimme, ohne Panik zu verbreiten. Nachrichtensendungen zu Corona sollten Menschen mit Demenz besser nicht sehen. Sie sind zu schwer verständlich und können Angst machen.

Außerdem ist es hilfreich, positive Schlüsselsätze und Begriffe sowie validierende Äußerungen zu verwenden wie z.B. „Ich bin da. Alles ist gut“. Dabei sollte die Kommunikation möglichst eindeutig und beruhigend erfolgen. Verbote wie „gehen Sie nicht raus“ sind eher zu vermeiden.

 

Petra Weber: Was ist bei dem Thema Maskenpflicht im Umgang mit Menschen mit Demenz zu beachten?

Jörg Hinner: Wenn Pflegende den Mund-Nasen-Schutz aufsetzen kann das sehr verunsichernd wirken. Diese „Vermummung“ kann von Menschen mit Demenz als bedrohlich empfunden werden. Hier ist es hilfreich, wenn der Pflegende vor den Augen des Pflegebedürftigen die Maske anlegt und in einfachen Sätzen erklärt, warum er das tut. Schwierigkeiten bereitet dementen Menschen auch, dass sie einen Großteil des Gesichts nicht sehen können. Die Mimik bildet für Menschen mit Demenz – je nach Stadium - eine wichtige Grundlage der Kommunikation. Damit sie Gefühle besser wahrnehmen können, sollten daher die Augen stärker in die Mimik einbezogen werden. Manchmal ist es auch hilfreich einfach den notwendigen Sicherheitsabstand einzuhalten und die Maske dann herunterzunehmen. Das muss immer von Situation zu Situation entschieden werden. Die Menschen mit Demenz selbst können natürlich durch ein Attest von der Maskenpflicht befreit werden.

Dann gilt es natürlich, zu wissen, welche Aktivitäten den Betroffenen besondere Freude bereitet. Was gefällt ihnen besonders? Etwas kochen, etwas backen, spielen, Fernsehabende – es gibt vieles, was auch dementen Menschen noch Spaß macht und ihren Alltag aufhellt. Manchmal müssen dafür Strukturen und Abläufe angepasst werden. Gerontopsychiatrische Fachkräfte sind darauf spezialisiert, die Bedürfnisse der demenziell erkrankten Menschen zu erkennen und individuell darauf einzugehen. Das vermitteln wir ganz intensiv in unserer Weiterbildung zur gerontopsychiatrischen Fachkraft.

 

Petra Weber: Was wären weitere konkrete Maßnahmen, um die Spannungssituationen, die sich aus den aktuellen Hygienevorschriften und den speziellen Bedürfnissen von Menschen mit Demenz ergeben, abzumildern?

Jörg Hinner: Hier gilt vor allem eines: Ruhe bewahren und Tempo reduzieren. Sind die Pflegemitarbeiter*innen angespannt, überträgt sich das auf die dementen Bewohner. Ebenfalls wichtig ist, dass die Bezugspersonen möglichst dieselben bleiben. Sie werden von Menschen mit Demenz auch hinter einer Maske an ihrer Stimme oder der Körperhaltung erkannt. Soweit dies möglich ist, sollten also individuell kreative Lösungen entwickelt werden, um einen Wechsel der pflegenden Person auf das nötigste Maß zu reduzieren oder im besten Fall zu vermeiden. Es gibt Pflegeheime, in denen sich die Mitarbeiter*innen auf längere Schichten geeinigt haben, damit die Bezugspersonen möglichst selten wechseln.

Auch gewohnte Rituale sind momentan besonders wichtig. Sie bringen Normalität, Routine und Struktur in den Alltag: Das Morgengebet, ein bekanntes Lied von einer CD oder auch gemeinsame Spiele - all dies vermittelt Sicherheit.

Das nächste Stichwort ist Bewegung. Viel Bewegung und frische Luft tun jedem gut. Hier bilden Menschen mit Demenz keine Ausnahme. Sie haben häufig einen besonders starken Drang sich zu bewegen. Soweit dies möglich ist, sollten deshalb Gärten oder Terrassen in Einrichtungen noch häufiger als bisher genutzt werden. Dies tut sowohl den Menschen mit Demenz als auch den Pflegenden gut.

Auch der Kontakt zu den Angehörigen ist natürlich ein wichtiger Faktor des Wohlbefindens. Auch hier gilt es, kreative Lösungen zu suchen, wenn die Besuche weiterhin noch eingeschränkt werden müssen. Es kann hilfreich sein, wenn z.B. Briefe an die Menschen mit Demenz geschrieben werden, die diese – eventuell mit Unterstützung durch Betreuungs- oder Pflegekräfte – lesen können. Die Briefe können auch durch Fotos ergänzt oder etwa auf elektronischem Weg, z.B. auf einem Tablet-PC oder einen USB-Stick für den Fernseher, übermittelt werden. Hier gilt das Prinzip: Die Angehörigen halten den Kontakt und kümmern sich um die notwendigen Kommunikationsmittel, während das Pflegeheim diese bspw. durch das Angebot von bestimmten Zeitfenstern, in denen dies möglich ist, unterstützt.

Petra Weber: Vielen Dank für das Gespräch Herr Dr. Hinner.

März 2021